Sekunden nachdem in Boston beim Marathon zwei Bomben auf der Zielgeraden hochgingen, explodierte auch das Netz – mit Fotos, Videos und Texten vom Anschlag. Wer wollte, konnte sich auf Facebook, Twitter, YouTube und Reddit mit Grausamkeiten vom Tatort versorgen – und so seinen fragwürdigen News-Hunger stillen. Die Polizei in Boston hat jetzt dazu aufgerufen, sämtliches Daten-Material für die Suche nach den Tätern bereit zu stellen. Es ist an der Zeit, eine Debatte darüber zu führen, wie die Gesellschaft bei Katastrophen mit ihren Social Media Werkzeugen umgehen möchte.
Wenn sich ein Verkehrsunfall ereignet, gehört es zum gesellschaftlichen Konsens, keine Fotos zu machen. Wer dies trotzdem tut, wird als Spanner abgestraft. Bei Katastrophen und Bomben- oder Terroranschlägen verhält es sich anders: Hier werden Smartphone und Tablet gezückt, um die Sekunden des Schreckens live in die verschiedenen Netzwerke zu übertragen. Gerade bei Terroranschlägen ist es dabei aber mehr als fraglich, ob dies geschehen sollte. Es gibt Vorteile und Nachteile – schauen wir uns einige an.
Die Vorteile
Während es beim 11. September noch Stunden bis Tage gedauert hat bis die ersten Bewegtbilder über den Schirm liefen, war es beim Boston Marathon nur eine Frage von Minuten. Somit kann die Polizei heute auf eine umfassende Menge an Material und Daten zurückgreifen, um somit möglicherweise die Täter ausfindig zu machen.
Ferner können Social Media Kanäle genutzt werden, um die Menschen vor Ort zu erreichen und zu warnen. Das ist im Fall des Boston Marathon von der Polizei eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden. Fast im Minutentakt gab es Handlungsanweisungen, welche Gebiete besser nicht aufgesucht werden sollten.
Auch ist es durch Social Media natürlich möglich, die Bilder rund um die Ereignisse direkt um die Welt zu schicken, um somit möglichst alle über die News zu unterrichten.
Boston Police confirming explosion at marathon finish line with injuries. #tweetfromthebeat via @cherylfiandaca
— Boston Police Dept. (@Boston_Police) 15. April 2013
Die Nachteile
Bomben- und Terroranschläge sollen die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzen. Das passiert lokal mit Bomben und regional/weltweit mit den Bildern der Verwüstung. Wenn jeder Social Media nutzt, um diese Bilder in die Welt zu übertragen, dann spielen sie der Absicht der Täter in die Hände.
Schon fast reflexartig wird sowohl in den USA als auch in Deutschland der Ruf nach noch größeren Online-Durchsuchungsrechten laut. Wenn alle Daten, die über soziale Netzwerke geteilt werden, der Polizei vermeintlich hilfreich sein können, dann spricht aus Strafverfolgungssicht nichts dagegen, sie auch auszuwerten. Ob in Zukunft eine Möglichkeit besteht, dass die Daten nicht untersucht werden sollen, bleibt an dieser Stelle ein Wunsch.
Wenn die Polizei dazu aufruft, das Material zur Überprüfung des Tatorts und des Tathergangs zu crowdsourcen, dann finden sich genügend auf einschlägigen Plattformen, um selber Ermittlungen anzustrengen. Dass dabei auch vermeintlich Unschuldige ins Visier der Hobbyermittler geraten, versteht sich von selbst. Dass es dabei zu Fehlern kommt, ist auch klar.
Was es braucht, ist eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit unseren Social Media Daten umgehen wollen. Darf die Polizei die Bilder auf Instagram, die Vines auf Twitter, die Videos auf YouTube und die Status-Updates auf Faceobok für Ermittlungen heranziehen – und wollen wir das? Wie können wir dem im Zweifelsfall vorbeugen? Wenn in naher Zukunft Google Glass auf den Markt kommt, wird sich diese Frage um so mehr stellen. Wir freuen uns über eine lebhafte Debatte.
Weiterführende Links:
- Wie Terroristen die Macht der Bilder nutzen
- Data for the Boston Marathon Investigation Will Be Crowdsourced
- Wie verhält man sich als Journalist während einer Krise